Analphabeten in unserer deutschen Bildungsgesellschaft, kann das wirklich sein? Studien zufolge leben rund 202.000 Menschen in Sachsen, die nicht richtig lesen und schreiben können. Bundesweit sind demzufolge etwa 7,5 Millionen Menschen dabei auf Hilfe angewiesen.
Germanistin Katy Lehmann hat sich auf dieses Thema spezialisiert. Seit neun Jahren unterrichtet sie an den <link internal-link internal link in current>Euro-Schulen Chemnitz Erwachsene in „Kursen zur Verbesserung der Deutschkenntnisse“. So oder als „Unterricht für Erwachsene, die Probleme mit Lesen und Schreiben haben“, bezeichnet sie die sogenannten Alphabetisierungskurse und erklärt: „Wenn in den Lebensläufen dieser Menschen das Wort „Alphabetisierungskurs“ steht, werden sie vom Personaler in der Regel gleich zur Seite gelegt, besser kommt die Formulierung „Lese- und Rechtschreibkurs“ an.
Der Großteil ihrer Kursteilnehmer ist 45 bis 50 Jahre alt, wurde in der ehemaligen DDR relativ schnell in Hilfs- oder Förderschulen gesteckt: „Sie machten zunächst ihren Förderschulabschluss und bekamen danach ihren „Teilfacharbeiter“ ausgestellt. Sie wurden vom System an die Hand genommen, mit durchgeschleift und kamen relativ gut über die Runden“, beschreibt sie eine Facette dieses Themas, um etwas Licht ins Dunkel zu bringen.
Zudem war Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) bis Mitte der 80er Jahre kein Thema, de facto nicht bekannt. In den Förderschulen gab es eine Vielzahl verhaltensauffälliger Schüler. Der Unterricht wurde zum Großteil mündlich abgehalten. „Viele Kursteilnehmer sind seit der Wende arbeitslos oder verrichten Minijobs. Keiner der Menschen, die ich bisher unterrichtet habe, konnte dauerhaft einen Vollzeitjob ausüben. Es ist aufgrund der mangelnden Kenntnisse einfach nicht möglich“, berichtet die junge Frau über ihre Erfahrungen. In ihren Kursen wird das Thema offen behandelt.
Das Alltagsleben der Betroffenen ist differenziert zu betrachten. Einige stehen zu ihrem Problem, andere vertuschen es: „Ich habe meine Brille vergessen“, „Ich habe eine Sehnenscheidenentzündung“, „Zu Hause habe ich mehr Ruhe, um die Formulare auszufüllen“ – Katy Lehmann weiß, wie sich Analphabeten ihren Weg in der Gesellschaft zu bahnen versuchen und wie schwierig es auf Dauer für sie ist.
Unterschieden wird zwischen primären und funktionalen Analphabeten. „Primäre Analphabeten sind Menschen, die nie die Chance hatten, eine Schule zu besuchen. In Deutschland sprechen wir von funktionalen Analphabeten. „Diese haben wenige Kenntnisse, um in der Gesellschaft zu funktionieren, sprich alle Aufgaben zu erledigen, die im Arbeitsalltag gestellt werden. Dass die Zahl der Betroffenen in den letzten Jahren gestiegen ist, liegt an der erweiterten Definition, die der Bundesverband vorgibt“, informiert die Expertin. Aufgeführt werden nun auch Personen, die lesen und schreiben können, jedoch nicht in der Lage sind, auf Textebene zu verstehen: „Alle, die nicht fähig sind, einen Text sinnerfassend zu formulieren oder etwas lesen, ohne es zu begreifen“, beschreibt sie die Fakten.
Noch vor 20 Jahren mussten die Menschen weniger lesen und schreiben. „Früher war es für Bewerbungszwecke nicht unüblich, einfach zum Chef eines Betriebes zu gehen und mit ihm zu sprechen“, sieht Katy Lehmann das Aufdecken der Analphabetismus auch durch die digitale, automatisierte Entwicklung unserer Gesellschaft.
Das Jobcenter ist sensibilisiert, die Zusammenarbeit mit den Euro-Schulen klappt durch jahrelange Kontinuität und Zuverlässigkeit gut, berichtet sie. Dennoch: „Nach dem Kurs ist die Anwendung das A und O, wer sich nicht selbst bemüht, dem bringt der ganze Unterricht nichts.“
Ein Kurs, das sind 600 Unterrichtsstunden: „Im Vergleich zum Grundschulbesuch, in dem ein Kind vier Jahre Zeit hat, um rechnen, lesen und schreiben zu lernen, ist das wenig“, wünscht sich Katy Lehmann mehr Lobby für ihre Schützlinge. Noch wichtiger aber ist es ihr, das Thema in die Öffentlichkeit zu bringen: „Wir müssen genauer hinschauen, als Freund, Nachbar oder Bekannter.
Analphabeten, die etwas ändern wollen, sollten wir auch den nötigen Respekt zollen und ihnen eine Chance zur Teilhabe an unserer Gesellschaft geben. Wer freiwillig hier her kommt sagt: ich habe ein Problem, aber ich tue etwas dagegen und das ist großartig! So bestärke ich jeden Einzelnen, in seinem Handeln.“
Das Thema wird mit dem Generationswechsel nicht aussterben, das sieht Katy Lehmann bereits heute: „Die Kinder der Teilnehmer gehören zum Kreislauf. Geschichten und Märchen in jungen Jahren vorgelesen zu bekommen, beeinflusst maßgeblich unsere spätere soziale Integrität. Deshalb ist es so wichtig, dass bundesweite Vorlesetage angeboten werden. Das Elternhaus ist aber ausschlaggebend für die Entwicklung, die wir nehmen.“
(Text: Kristina Neukirch, Euro-Schulen Chemnitz)
Hinweis zur Gender-Formulierung: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verwenden wir im Text nur die männliche Form. Bei allen personenbezogenen Bezeichnungen meint die gewählte Formulierung stets beide Geschlechter.